Mit KI zur Entscheidungsfindung.

EuGH, 29.09.2022 - C-633/20 - TC Medical Air Ambulance Agency -

PRAXISHINWEISE

0.1 Die Entscheidung macht endgültig Schluss mit dem von Hans Möller (Recht und Wirklichkeit in der Versicherungsvermittlung 1944, S. 19) begründeten und von Rspr. (BGH, 22.05.1985 LS 4 m.w.N. - Victoria 1 -) und Gesetzgeber (BT-Drs. XVI/1935, S. 18) rezipierten Begriff des Versicherungsvermittlers, nach dem Versicherungsvermittler nur sein kann, wer kraft rechtsgeschäftlicher Geschäftsbesorgungsmacht für einen anderen Versicherungsschutz ganz oder teilweise beschafft, ausgestaltet und abwickelt, ohne selbst VN oder VU zu sein.

0.1.1 Nach der Entscheidung ist als Versicherungsvermittler i.S.v. Art. 2 Nrn. 3 und 5 der RiLi 2002/92/EG und Versicherungsvertreiber Art. 2 Abs. 1 Nrn. 1, 3 und 8 der RiLi 2016/97/EU auch der VN eines Gruppenversicherungsvertrages zu verstehen, der Gruppenmitgliedern Versicherungsschutz unter der von ihm gehaltenen Versicherungspolice verschafft (LS 1).

0.1.2 Die Entscheidung unterstellt Gruppen-VN dem Regime der aufsichtsrechtlichen Vorschriften (LS 40), und zwar auch dann, wenn sie sich bei der Werbung von Mitgliedern der Einschaltung von Vermittlern bedienen, d.h. bei der Begründung der Mitgliedschaft nicht selbst gegenüber dem Verbraucher auftreten. Damit unterwirft sie die Leistung der Verschaffung von Versicherungsschutz generell der Erlaubnispflicht, ohne dass hinzu kommen muss, dass die Mitgliedschaft auch selbst angebahnt werden muss. Allein dies dürfte in der Praxis zu Problemen führen. Denn die Möglichkeit, als produktakzessorischer Vermittler nach § 34 d Abs. 6 GewO tätig zu werden, kann allenfalls der Gruppen-VN für sich in Anspruch nehmen, nicht aber der vom Gruppen-VN ständig mit der Werbung von Mitgliedern betraute HV. Dieser dürfte den Einschluss in den Gruppenvertrag nicht als Ergänzung der im Rahmen seiner Haupttätigkeit gelieferten Waren oder Dienstleistungen vermitteln. Jedenfalls aber hat der die Mitgliederwerbung betreibende HV die Befragungs- Beratungs- und Dokumentationspflichten zu beachten, was die Mitgliederwerbung erheblich erschweren kann, wenn sie - wie im Streitfall - an der Haustür der Verbraucher erfolgt.

0.2 Bei seiner Entscheidungsfindung hat die Erste Kammer des EuGH den in gefestigter Rspr. des EuGH entwickelten Grundsatz unbeachtet gelassen, auch unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben (vgl. dazu zuletzt EuGH, 13.10.2022 LS 4 m.w.N. - Herios -).

0.2.1 Würde dieser Grundsatz beachtet worden sein, hätte die Erste Kammer auch die Frage aufwerfen müssen, ob das Geschäftsmodell eines Reise-Assistance-Dienstleisters, der für seine Mitglieder eine telefonisch erreichbare Alarmzentrale unterhält und die Organisation und Durchführung von Krankentransporten übernimmt, nach nach Art. 1 Abs. 2 RiLi 2002/92/EG und Art. 1 Abs. 3 RiLi 2016/97/EU vom Anwendungsbereich der RiLi ausgenommen sein kann. Die Vermittlung von Auslandsreisekranken- und -unfallversicherungen erforderte nach Art. 1 Abs. 2 RiLi 2002/92/EG nur Kenntnisse des angebotenen Versicherungsschutzes und war daher von deren Anwendungsbereich ausgenommen, soweit sie als Zusatzleistung zu einer Dienstleistung mit einer Jahresprämie von weniger als 500,-- Euro nebenberuflich vermittelt wird.

0.2.2 Ebenso blieb ungeprüft, ob die Ausnahmevorschrift des Art. 1 Abs. 3 RiLi 2016/97/EU greift, die darauf abstellt, dass eine solche Versicherung als ergänzende Leistung zu einer Dienstleistung durch einen Vermittler in Nebentätigkeit abgesetzt wird. Es erscheint keineswegs evident, warum die RiLi einem Reisebüro weniger Verbraucherschutzstandard abverlangen als einem Unternehmen, das eine 365/24/7-Hotline betreibt, Rücktransporte organisiert, ambulante Behandlungen vermittelt oder deutsch bzw. englisch sprechende Ärzte benennt. Die Erste Kammer hätte die Vorlagefrage erweitern müssen, zumal der BGH in seiner Vorlage das Geschäftsmodell durchaus thematisiert hat (BGH, 15.10.2020 LS 22 - TC Medical Air Ambulance Agency -).

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Urteil
C-633/20
29.09.2022
EuGH
Versicherungsvermittler
Begriff
Versicherungsvertreiber
entgeltliche Verschaffung von Versicherungsschutz unter einem Gruppenversicherungsvertrag als Versicherungsvermittlung
Gruppenspitze als Versicherungsvermittler
VN eines Gruppenversicherungsvertrages vermittelt Versicherungen
Vermittlereigenschaft des Gruppen-VN
Gruppenversicherungsnehmer
Art. 2 Nr. 3 RiLi 2002/92/EG
Art. 2 Nr. 5 RiLi 2002/92/EG
Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 RiLi 2016/97/EU
Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 RiLi 2016/97/EU
Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 RiLi 2016/97/EU
Art. 267 AEUV

ERGEBNISVORSCHLÄGE